Sonntag, 29. März 2015

JOCKEL DER GOCKEL



JOCKEL DER GOCKEL
die BaumKarikatur einer Platane in Oberursel/Taunus in Hessen

gelesen von Ulla Wagener

An einem lauen Frühlingsmorgen im Dorf Hintermwald schlug die Kirchturmuhr 9, schlug 10, schlug 11 und immer noch bewegte sich rein gar nichts. Die Tür des Hühnerstalles auf dem Hof des Eiermannes sie blieb verschlossen. Durch die schmalen Fensterluken konnten die Hühner beobachten, wie die Sonne stieg und stieg. Hecktisch trippelten die Hennen auf ihren runden Holzstangen auf und ab. Die Glucken in den Nestern rutschten unruhig auf dem blanken Stroh oder auf ihren Eiern hin und her. Sie rieben sich den Po wund und gackerten ununterbrochen.



Der Hahn Jockel hatte sich auf eine Stange neben dem Eingang des Hühnerhäuschens gesetzt und hatte seine Ohren gespitzt. Er wartete auf das Geräusch, das der Riegel macht, wenn er aufgeschoben wird 
- doch vergebens...
Ab und an hörte Jockel, wie im Haus des Eiermanns das Telefon klingelte, aber niemand nahm den Hörer ab.
Im Stall wurde es immer unruhiger.
"Es ist so stickig hier, wir wollen raus!" piepsten die Küken und planschten im Trinkwasser. 
"Wer war das? Wer hat schon wieder neben den Fressnapf gekackt? 
Wie ekelig!" 
"Durst!" krächzten die Halbwüchsigen und schlürften das abgestandene Badewasser. 
"Wir haben Hunger!" gackerten die nimmersatten fetten Hühner und stritten sich um die letzten Körner. Die kräftigeren Hühner begannen auf die Schwächeren einzuhacken. Was für ein Gekeife. Der Lärm in der kleinen Hütte wurde unerträglich.

Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte und der Türriegel noch immer den Ausgang des Hühnerstalles verschloss, schrie Jockel der Gockel in die aufgebrachte Runde:
"Ruhe jetzt, Schluss mit dem Gezanke. Ich krähe Alarm."
Und Jockel krächzte erst und krähte dann so laut er nur konnte. Er krähte, dass die Hühner sich die Ohren mit den Flügeln zu halten mussten. 
Die anderen Hähne im Dorf hörten Jockels Krähen und stimmten ein. Dann bellten die Hunde und die Singvögel umkreisten zwitschernd den verlassenen Hof. 
Der Fuchs kam aus dem Wald und legte sich auf die Lauer.
Aber noch immer war keine Menschenseele zu hören und zu sehen.

Erst am frühen Abend hörte Jockel Schritte näher kommen. 
Der schwere eiserne Riegel stöhnte, als er aus der Verankerung sprang und die Türe des Hühnerstalles öffnete sich quietschend.
Jockel atmete auf. - doch - Er erschrak.
Seit wann trägt denn der Eiermann ein Kopftuch? 
- Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken -, als er die Nachbarsfrau Trude erkannte. 
So hatte er Trude noch nie gesehen. Ihr Gesicht war kreideweiß und sie hatte verquollene, rote Augen.
"Ihr Armen" sagte Trude, griff in ihre prall gefüllten Schürzentaschen und streute Körner vor die Hütte. Während ihre Tränen flossen, goss sie frisches Wasser aus einer Kanne in die Trinkschalen. Nachdem sie die Nester erfolgreich nach Eiern abgesucht hatte, verließ Trude gesenkten Kopfes den Hühnerstall. 
Die Stalltüre blieb weit offen stehen und sie klapperte im Wind.

Was ist hier nur los dachte Jockel, das hat nichts Gutes zu bedeuten.
Später hielten Fahrzeuge vor dem Hof. Fremde Menschen gingen ein und aus. Erst als das letzte Auto die Einfahrt verlassen hatte, kehrte wieder Ruhe auf dem Hof ein. Es wurde Nacht und die satten Hühner gingen schlafen. Am nächsten Morgen erst, beim Durchzählen, stellten die Hühner fest, das wieder einmal ein Huhn fehlte.

Als an diesem Morgen der Eiermann, der sich immer liebevoll um seine Hühner und Hähne gekümmert hatte, in einem schwarzen Sarg aus dem Haus getragen wurde, krähte Jockel, sein stolzer Gockel, ein letztes Mal vom Mist.


Die Hühner weinten und klagten. Wer würde jetzt ihre Futternäpfe füllen und sie vor dem bissigen Schäferhund schützen? 
Was soll nur werden?
Sie pickten Korn um Korn - fürchtend, dass dies ihre letzte Mahlzeit sein könnte.

Nur Jockel, obwohl auch er sehr traurig war, dass die Lebensuhr des kreisen Eiermanns nun abgelaufen war, schritt aufrecht. 
Er wusste längst, dass das Leben endlich ist.
In erträglichem Abstand zum Gegacker der aufgeregten Hühner lief er am Zaun entlang immer fort auf und ab. 
Er versuchte seine Gedanken zu ordnen und sich des Planes zu erinnern, den er geschmiedet hatte, als er das erste Mal bemerkt hatte, dass es um die Gesundheit des Eiermannes nicht eben gut stand.
Schon damals hatte er das Unabänderliche kommen geahnt und sich Gedanken darüber gemacht, was zu tun sei, wenn der Eiermann einmal nicht mehr da sein würde. Zu dieser Zeit war Jockel jung und unerfahren gewesen. Vor Kummer und Sorge um die Zukunft war Jockel damals selbst auch krank geworden. Ihm gingen Federn aus und sein sonst so prächtiger Kamm hing schlaff von seinem Köpfchen.

Jockel erinnerte sich an das Gespräch mit der ältesten Henne im Hühnerstall, die ihn damals in seiner schweren Seelennot mit den Worten: 
"Lass den Kopf nicht hängen Kleiner." aufzumuntern versucht hatte.
"Sicher wir haben ein großes Glück bei einem Menschen wie dem Eiermann leben zu dürfen, der all seine Tiere liebt, versorgt und artgerecht hält. Der Eiermann ist ein guter Mensch, er ernährt uns und wir überlassen ihm zum Dank unsere Eier.
Jedoch hörte ich während meines langen Lebens schon schlimme Geschichten. Einige Hennen sprachen von Menschen, die Tiere nur als Nutztiere halten und gnadenlos ausbeuten und ... und ..." 
stotterte die Henne Hanne.
"... sogar töten und das nicht nur, um selbst überleben zu können. 
Mit Schrecken denke ich an Mastfarmen und Legebatterien von denen mir die fremden Hühner erzählten. 
Kleine Hähnchen wie Du mein lieber Jockel, die das Pech haben auf einer Farm mit Massentierhaltung zu schlüpfen,"
schluchzte die Henne:
"hörte ich - und kann es immer noch nicht glauben -, 
werden kaum sind sie aus dem Ei geschlüpft aussortiert und oh du großer Hühnergott vergaßt oder geschreddert."
Jockel glaubte, er hätte sich verhört:  
"Bitte was...? Meinst du etwa wie Holz, wie Äste geschreddert?"
"Ja,  so wurde es mir berichtet." antwortete die Alte Henne sehr ernst.
"Die gelb-gefiederten, süßen, kleinen männlichen Küken, werden lebendig in einen Schredder geworfen."
Jockel spürte wie die Wut in ihm aufstieg und wie seine Krallen messerscharf wurden.
"So etwas haben sich Menschen ausgedacht?" fragte er nach einer langen Pause des Entsetzt seins "Menschen, die uns so viel verdanken?"
Zum ersten Mal in seinem neugierigen jungen Leben stellte er nicht die Frage nach dem Warum. Manche Menschen hätten auf die Frage nach einem Warum wohl eine Antwort formulieren können, aber kein Tier hätte ein Weil, aus welchen Gründen auch immer, akzeptieren können.
"Was für eine lebensverachtende, bestialische, widernatürliche Aktion."
Die Henne nickte und gluckste: 
"Vor den Menschen nimm Dich in Acht, die Meisten von ihnen haben uns nur zum Fressen gern, das lass Dir von einer weisen Alten gesagt sein. Aber mein lieber Gockel wisse auch, nicht immer lebten wir Hühner in Abhängigkeit von den Menschen. Es gab eine Zeit, da lebten unsere Vorfahren, die Bankiva-Hühner, wie viele Vögel wild im Wald. Es war ein Leben mit vielen Entbehrungen, aber es war ein würdevolles Leben, ein Dasein im Einklang mit der Natur. Das war bevor die Menschen uns ein Schlaraffenland vorgegaukelt hatten und uns mit "Putt, Putt, Putt" und leckeren Körnern in ihre Behausungen gelockt haben."
Jockel war platt nach dem Gespräch mit der alten Hanne, aber er wäre nicht Jockel gewesen, wenn er nicht mehr hätte erfahren wollen. Oft steckten er und die Alte später ihre Köpfe zusammen. Jockel konnte nicht genug bekommen von Hannes Geschichten über die wilden Hühner, seine Urahnen.

Nach vielen weiteren Gesprächen mit der schlauen Henne hatte Jockel beschlossen, kräftig und stark zu werden, um wenn der Eiermann einmal nicht mehr für die Hühner sorgen könnte, an seiner statt die Verantwortung für sein Hühnervölkchen übernehmen zu können, so wie es auch schon in früheren Zeiten die Hähne getan hatten. Er wurde wieder gesund und wuchs heran zu einem prächtigen Hahn.
Seit Jockel davon wusste, was seinen Artgenossen auf anderen Hühnerfarmen widerfährt, träumte er oft schlecht, es plagten ihn Albträume. Das mit dem Schreddern wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Immer wenn die Waldarbeiten begannen und Jockel die Maschinen knattern hörte, rannte er wie aufgescheucht über den Hof, sprang in die Höhe und zeigte seine scharfen Krallen.
Er krähte: "Ich werd' zum Kampfhahn, nehmt euch in Acht! Hier wird Niemand geschreddert." Kein Mensch wagte dem ekstatisch tanzenden Hahn dann zu Nahe zu kommen, nicht einmal der Eiermann.
Der Eiermann wusste zwar nicht, was seinen Hahn oft so aufregte und warum er manchmal so außer Rand und Band geriet, denn er konnte die Sprache der Hühner nicht verstehen, aber er hatte seinen Gockel gern und er ließ nichts auf ihn kommen. Allen die Jockel für verrückt hielten und den Hahn am liebsten im Suppentopf gesehen hätten, erwiderte der Eiermann: "Ihr habt ja keine Ahnung nicht. Mein Gockel ist genial. Er hat einen gesunden Instinkt. Er kräht so pünktlich in der früh, das schafft kein Wecker nicht. Zu gern seh' ich ihn an meinen stolzen Hahn und lass ich ihn, wie er ist."



Nun da Jockel wusste, dass der Eiermann für immer gegangen war, standen die Zeiger des ZeitRades auf Veränderung und Neubeginn. 
"Die Menschen können mich mal zum Fressen gern haben, 
aber bekommen werden sie meine Hühnchen und mich nicht - dafür Sorge ich!" 
Für Jockel den Kickelhahn war nun endgültig die Zeit gekommen seine Manneskraft zu beweisen. 
- Nur noch einmal darüber schlafen, Morgen packe ich es an - 
dachte Jockel, sprang auf seine Stange und fiel in einen ohnmächtigen tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen in aller Frühe, schlichen sich Jockel und im Gefolge, die Hennen und Küken, aus dem Stall und schlüpften durch ein Loch im Zaun. Sie verschwanden heimlich still und leise im angrenzenden Wald. Nur der Schäferhund Knut bemerkte die Ausreißer und kläffte ihnen noch lange nach.

Das schöne Leben als Hahn im Korb war nun schlagartig vorbei für Jockel, er wusste das. Er hatte den ersten Schritt in die Freiheit gewagt und es fühlte sich gut an.
Als die kleine Geflügelschar weit genug vom Dorf entfernt war, begannen die Hühner auf dem Waldboden in alle Himmelsrichtungen zu scharren und zu picken. Es gab ausreichend Würmchen und Schnecken und saftig frische Knospen, genug für alle. Die Hennen konnten sich aus dem Weg gehen, jedes Huhn hatte genug Raum für sich. Trinken konnten sie aus einem kleinen Rinnsal, einem schmalen gut zugänglichen Seitenarm des plätschernden Baches am Rande des Waldes. Die Küken tollten und piepsten überglücklich. 

Jockel, vor Freude übermütig, flatterte hoch auf einen Ast und spreizte seine Flügel. Sein prachtvolles Gefieder glänzte in der Morgensonne. Er hob den Kopf, es schwoll sein roter Kamm und lautstark, aus vollstem Halse krähte er sein "Kickerikie, wir Hühner leben jetzt im Wald, wir schaffen das. Wer uns bedroht, dem kratze ich die Augen aus. Kikerie, Kikerikie."

Der Fuchs, der von Jockels lautem Krähen geweckt wurde, knurrte mürrisch.
Er dachte sich - da hast Du Dich zu früh gefreut, du Vogel mit der roten Narrenkappe. Du kennst Gevatter Reineke noch nicht und ahnst auch nichts von meiner List, Du aufgeblasener Hahn.
Jockel aber hatte von seinem gut gewählten Aussichtspunkt den Fuchsbau längst erspäht und gesehen, dass sich dort etwas regte. 
Er warnte seine Hühner: 
"Auf die Bäume ihr Hühner, versteckt euch aber schnell und immer schön die Augen und Ohren offen halten..." Die meisten Hühner sprangen und flatterten noch etwas tollpatschig so hoch sie konnten und landeten auf Ästen, wo sie erst einmal sicher waren, denn Füchse klettern ja bekanntlich nicht auf Bäume. Die Glucken suchten schleunigst einen geschützten Unterschlupf für ihre Küken und für sich. Sie verkrochen sich in Mulden und waren mäuschenstill.
Wer hat sich jetzt zu früh gefreut? Kein einziges Huhn nicht einmal ein Küken bekam Reineke Fuchs zwischen die Zähne und so trollte er sich, versuchte eine Gans zu stehlen.

Die Hühner wanderten weiter, weg von den Behausungen der Menschen, fort vom Fuchsbau. Sie suchten sich sichere und geschützte Stellen im Wald. Nach einer Weile klappte es auch viel besser mit dem Hochflattern und dem Balancieren auf den Ästen. Bei Einbruch der Dunkelheit boten ihnen die Bäume den besten Schutz und so schliefen die Hühner auf den Ästen.
Jockel, der sich immer den höchsten Ast aussuchte, schlug sich gegen seine HahnenBrust und er gedachte der alten Henne Hanne, seiner Lehrerin, die ihn auf ein unabhängiges Leben im Wald so gut vorbereitet hatte.
Jetzt konnte er sein Wissen weiter geben. Die Hühner vertrauten ihm.
Das stumpfsinnige Dasein hinter Zäunen hatte ein Ende.
Jetzt hieß es wachsam bleiben und selber etwas tun. 
Jetzt hieß es leben und am Leben bleiben.

Auch jetzt leben noch immer ein paar wilde Hühner im Wald und zu Ostern gehen die Kinder aus dem Dorf in den Wald um dort nach Ostereiern zu suchen.

fotos Oberursel 2010-10-11 & text 2015 © johanna zentgraf



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