JÜRGEN DIE KEGELROBBE
Jürgen war keine
gewöhnliche Kegelrobbe. Oh nein! Er war in der Seerobbenstation Friedrichskoog
schon als kleiner Heuler aufgefallen, weil er unglaublich gut Gegenstände auf
seiner Nase balancieren konnte. Bälle, Heringe, Stühle, einfach alles was ihm
so vor die Kegelrobbennase kam.
Eines Tages wurde endlich Zirkus Bohne auf
Jürgen aufmerksam. Er bekam ein Stipendium an der renommierten Artistenschule
in Monte Carlo und schloss als Jahrgangsbester ab!! Danach ging er sofort mit
Bohne auf Welttournee und begeisterte rund um den ganzen Erdball die Menschen
mit seinen Balancierkünsten!
Selbstverständlich wohnte
Jürgen nicht in einem Käfig, er war schließlich ein Ausnahmetalent! Nein, er
durfte in jeder Stadt, die der Zirkus besuchte, im schicksten Hotel wohnen.
Am Schönsten fand Jürgen
es, wenn er einen Wasserkocher auf dem Zimmer hatte, wie zum Beispiel im Best
Western Hotel in Niefern-Öschelbronn. Er konnte den Kocher auf seiner Nase
gegen den Uhrzeigersinn drehen, während das Wasser sich erhitzte (er machte sich
oft einen Kamillentee nach der Vorstellung) und eine kleine Melodie dabei
pfeifen.
Aber dann gingen die
Probleme los...
Irgendwann wurde bei Zirkus
Bohne das Geld knapp und deswegen musste Jürgen ab sofort sein Hotelzimmer mit
einem anderen Artistenkollegen teilen.
PUDELDAME CLAUDINE
Seine Zimmergenossin war Claudine, eine
reinrassige Pudeldame, die in der Manege stets einen kleinen pinkfarbenen
Zylinder trug und unter tosendem Applaus durch einen brennenden Reifen hopste.
Jürgen verabscheute sie zutiefst. Claudine hatte sich ein paar Monate zuvor von
ihrem Lebensgefährten Gismor getrennt, ein lebhafter Schäferhundmischling aus
der Eifel, der sich als komplett bindungsunfähig herausstellte. Claudine war
einfach noch nicht über „Gissi“ (wie sie ihn immer nannte) hinweg, soff ständig
die Minibar aus und nervte Jürgen nächtelang mit sentimentalen Erinnerungen an
die gemeinsamen Urlaube mit Gissi an der Costa Brava. Außerdem schnarchte
sie unglaublich laut und wenn sie auch
noch die Erdnüsse aus der Minibar verschlungen hatte, pupste sie ununterbrochen
im Schlaf. Oft vergaß sie, die Nüsse am nächsten Morgen an der Rezeption zu
bezahlen und dann musste Jürgen dafür aufkommen. Das ging ganz schön ins Geld!
In
Hofheim eskalierte die Situation. Claudine hatte nicht nur die Minibar geleert,
sondern auch die GANZE Flasche Bierlikör, die sie in Warburg geschenkt bekommen
hatte. Da sie ihren Schlüssel irgendwo auf der Strecke Hofheim-Kelkheim
verloren hatte, erklomm sie, angetütert wie sie war, über ein Efeuspalier den
2. Stock des Hotels, in dem das gemeinsame Zimmer war, mähte einen CSU
Sonnenschirm nieder und zerschlug dabei ein Fenster. In diesem Zustand fand
Jürgen die Pudelausgeburt dann
schnarchend und pupsend am nächsten Morgen zwischen lauter Glasscherben auf der
Auslegeware. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und war völlig ausser
sich.
Er wusste, dass er, wenn es so weiter ging, nicht mehr die Konzentration
für seine hochkomplizierte Balancenummer, aufbringen würde. Das könnte das Ende
seiner Karriere bedeuten. Es musste etwas geschehen. Claudine musste
verschwinden.
Jürgen entschied sich, dass
es wie ein Unfall aussehen musste. Bei der nächsten Vorstellung in Offenburg
witterte er seine große Chance! Leise schlich er sich in einer Vollmondnacht in
das verlassene Zelt und goss eine großzügige Menge Agent Orange in den
Spirituseimer, der für Claudines BrennendeReifenNummer vorgesehen war. Diese
hochbrennbare Flüssigkeit hatte er sich zuvor auf dem Schwarzmarkt in Bad Orb
von einem Vietnamveteranen besorgt.
Am nächsten Abend war es
soweit! Claudine hatte keine Chance. Durch den vielen Alkohol in ihrem Blut
ging alles sehr schnell. Es war ein schrecklicher Moment, ein Mantel des
Schweigens und der Trauer legte sich über die Manege als der Dompteur bebend
vor Schmerz den kleinen verkohlten pinkfarbenen Zylinder hinaustrug. Aber
Jürgen hatte keine Tränen. Frei! Schrie eine Stimme in seinem Inneren. In
Gevelsberg würde er endlich wieder 7 Stunden schlafen!
text 2013: © martina dähne
fotos 2010/2011: © johanna zentgraf